Übergabe der Studie an Politiker aus Landes- und Bundespolitik
Treffen mit Politikern verschiedener Parteien aus der Landes- und Bundespolitik nahm der Verband in den zurückliegenden Monaten immer wieder zum Anlass, die Studie der Bertelsmann Stiftung zu übergeben. Verbunden ist damit der Wunsch, die Bedarfe von Kinderreichen aktiv in den Blick zu nehmen und verbesserte Rahmenbedingungen für ein eigenverantwortliche Gestaltung des Alltags herbeizuführen.
Was Familien brauchen, um den Alltag mit drei und mehr Kindern gut zu gestalten ist in der Studie ausgeführt.
Mehrkindfamilien gerecht werden: Bedarfe im Alltag von Familien mit drei und mehr Kindern (2022)
Die Studie geht von der Beobachtung aus, dass sowohl in Politik als auch in der Forschung „kein nachhaltiges Interesse“ (S. 92) an einer spezifischen Analyse und Beachtung der Mehrkindfamilienform existiert. Die Themen von Mehrkindfamilien seien „nicht attraktiv“ (S. 45). Immer noch halten sich in der Gesellschaft zwei stereotypische Bilder über Mehrkindfamilien hartnäckig: Entweder wachsen drei und mehr Kinder in Familien auf, die von staatlichen Transferleistungen abhängig sind, oder in Familien, die über ein großes Einkommen verfügen. In den Köpfen vieler Menschen werden sie als anders, nicht-normal bzw. von der „Norm abweichend“ gesehen. Sie fallen „aus der Rolle“ (S. 92).
Andresen et. al. zeigen deutlich, dass das für Deutschland prägende Familienbild (zwei Erwachsene und zwei Kinder), welches mit dem Ideal des „guten“ Aufwachsens und einer „guten“ Erziehung mit nur einem Geschwisterkind einhergeht, deutlich überholt und vergangenheitsbezogen ist. In Deutschland werden Paare strukturell benachteiligt, die sich für ein Leben mit vielen Kindern aus freiem Willen und aus Freude an dem Lebensmodell entscheiden. Indem über die letzten Jahre hinweg das Modell der Mehrkindfamilie verloren gegangen ist, erscheint das, was einst üblich war, als „unnormal“ und fremd. Es gilt sowohl gesellschaftlich als auch politisch in großen Teilen als nicht investitionsfähig. Mit diesem „blinden Fleck“ werden auf verschiedenen Ebenen die Bedarfe und Ansprüche von großen Familien mit dritten, vierten und weiteren Kindern schlichtweg ignoriert. Zum großen Nachteil derjenigen, die einen überdurchschnittlich hohen Beitrag zum Generationenvertrag in diesem Land leisten. Die Bertelsmann-Studie bestätigt, dass „Mehrkindfamilien vielfach nicht mitgedacht werden“ (S. 93).
Es ist festzuhalten, dass diese Studie einen sehr wichtigen Beitrag dazu leistet, diesem Familienmodell die Aufmerksamkeit zu schenken, die es verdient und die seit Jahren übersehen wird. Des Weiteren liefert sie damit eine Basis, um für die ca. 1,3 Millionen Mehrkindhaushalte (mit Kindern unter 18 Jahren)[1] eine politische und gesellschaftliche Gerechtigkeit zu ebnen, die längst überfällig ist. Denn sehr klar arbeiten die Forscherinnen heraus, dass Mütter und Väter mit drei und mehr Kindern einen anspruchsvollen Alltag auf sich nehmen. Sie verzichten oft auf eine (umfänglichere) Erwerbstätigkeit, senken damit die Möglichkeit zur eigenen Altersvorsorge, verfügen über weniger Zeit zur Regeneration und stellen eigene Wünsche in den Hintergrund. Vielmehr genießen sie das Glück in und mit ihren großen Familien (vgl. Factsheet S. 1). Die Ehe und eine stabile Partnerschaft legen dabei ein Fundament für ein gesundes Aufwachsen ihrer Kinder.[2]
Im Rahmen einer qualitativen Studie wurden 20 Interviews durchgeführt, von denen sieben als ausführliche Portraits aufgezeichnet sind. Den Autorinnen gelingt eine Zusammenstellung von Beispielen, die die Vielfalt des Familienmodells abbilden und die Unterschiedlichkeit und Diversität von kinderreichen Familien aufzeigen, u.a. mit Blick auf die Wohnverhältnisse, das Einkommen, die Aufteilung von Erwerbs- und Hausarbeit, das Zeitmanagement und die hohen Anforderungen an die eigene Leistungsbereitschaft. Das Ergebnis ist eindeutig: Es ist an der Zeit, mit einseitigen Vorstellungen über die Mehrkindfamilie zu brechen, denn die Mehrkindfamilie gibt es nicht: „Mehrkindfamilien sind vielfältig“ (Factsheet S. 1.). Sie werden u.a. als pragmatisch, dynamisch, liebevoll, respektvoll, chaotisch, harmonisch, kreativ, flexibel, strukturiert und fokussiert dargestellt. Sie sind nie einsam. Kinderreiche Eltern reflektieren überdurchschnittlich hoch ihre jeweilige Situation und sind natürlicherweise angehalten, nachhaltig zu wirtschaften.
Bemerkenswert an der Studie ist, dass der Wechsel aus wissenschaftlicher Analyse und einschlägigen Zitaten der Elternteile überaus homogen vonstatten geht und damit den Zugang zu der wissenschaftlichen Lektüre in seiner Komplexität vereinfacht. Die herangezogenen Interviewpassagen zeugen von einer hohen Reflektionsfähigkeit kinderreicher Eltern. Insbesondere hervorzuheben sind die Leistungen von Müttern und Vätern innerhalb der Grenzen ihres Einkommens zu wirtschaften und dabei den unterschiedlichen Interessen ihrer Kinder in ihrer Individualität gerecht zu werden.
Mit jedem einzelnen Kind nimmt das Potenzial zu, neue Erfahrungen zu sammeln. Dadurch entsteht die Möglichkeit, als Mutter und Vater vielfältige Perspektiven mitzuerleben: „Das schönste sei, im Verhältnis zu seinen Kindern, selbst klein zu werden“ (S. 30). Mit anderen Worten, der Wissens- und Erfahrungsschatz der Kinder nimmt in unterschiedlichen Bereichen zu und sie werden selbst „Experten“ auf ihrem Gebiet. Zudem wird ihnen bestätigt, dass Kinder aus Mehrkindfamilien über zwischenmenschliches Wissen sowie ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein gegenüber ihren Eltern und jüngeren Geschwisterkindern verfügen. So lernen sie Respekt und Wertschätzung nebst Vertrauen und einer Diskussionskultur bereits im kleinen „System“ Familie kennen. „Familie“ nimmt generell einen hohen Stellenwert für sie ein – getreu der sehr treffenden und ehrlichen Bewertung durch einen mit zitierten Kindermund: „Das Schönste an einer Großfamilie ist, man ist nie allein. Und das Schlimmste an einer Großfamilie ist, man ist nie allein“ (S. 41).
Es ist der Blickwinkel, über den sich vieles im Alltag von Mehrkindfamilien erschließt: In den Narrationen finden sich zahlreiche Belege über die Notwendigkeit wieder, sich immer neu aufeinander einzulassen, weil jedes weitere Familienmitglied vertraute Konstellationen verändern kann. Allein durch eine höhere Anzahl an Beteiligten ist es nötig, sich bei der Gestaltung des Familienlebens, auf neue Situationen, auf sich verändernde Bedürfnisse, Wünsche, Interessen und individuelle Anliegen ebenso einzustellen, ebenso wie auf Konflikte und Grenzen (S. 30). Dadurch wird ersichtlich, wie anpassungs- und lernfähig Kinderreiche sind.
Vor diesem Hintergrund und mit ihrem überaus reichen Schatz an Erfahrungen ist es unverständlich, warum die Leistung von Mehrkindfamilien – insbesondere mit Blick auf den Generationenvertrag in unserer Gesellschaft – zu wenig anerkannt wird. Oft wird in den Berichten deutlich, dass sich Eltern über ihre eigene Altersvorsorge Gedanken machen und sorgenvoll auf ihre Rente schauen. Das derzeitige Rentensystem zielt überwiegend auf die monetären Beiträge der aktuell Erwerbstätigen ab. Dabei wird der generative Beitrag von Familien durch die Geburt, Erziehung und Ausbildung von Kindern nahezu völlig außer Acht gelassen, obwohl Familien einen unverzichtbaren Beitrag für das umlagefinanzierte Rentensystem leisten!
Und obwohl allein deshalb diese Eltern bereits eine besondere Unterstützung verdienen, werden sie wegen ihrer großen Anzahl an Familienmitglieder oft „belächelt“ oder gar nicht ernst genommen (S. 36f.). Immer wieder erleben sie Vorurteile und Stigmatisierung: „Ja, ihr seid selbst schuld, wenn ihr so viele Kinder habt“ (S. 5). Sie werden als „asozial“ deklariert und dürfen sich auf der Straße eines „zählenden Blickes“ (S. 26) gewiss sein, dabei gehören die meisten kinderreiche Familien heute der Mitte der Gesellschaft an (Factsheet S. 1). Jede dritte kinderreiche Frau ist gut bis sehr gut ausgebildet (Factsheet S. 1). Ein Teilhabegeld, das die wirtschaftende, mittelständische Mehrkindfamilie übersehen würde, riskiert das Potential einer gesellschaftlichen Spaltung und Verstärkung von Stereotypen, die diese Studie in ihrem Anliegen eindrücklich widerlegt hat.
Nicht ausgespart wird die aktuelle Krisenlage. Die Covid-19-Pandemie und das Klima stellen Mehrkindfamilien vor besondere Herausforderungen: In der Pandemie fielen Kita und Schule zeitweise aus und alle Kinder mussten zu Hause altersgerecht beschult und betreut werden. Beim Einkaufen standen Mehrkindfamilien während der Pandemie, insbesondere zum Zeitpunkt der Erhebung der Daten, unter ständigem Verdacht, zu „hamstern“, obwohl sie nur den Bedarf für den eigenen Haushalt decken wollten. Im Zusammenhang mit Mobilität tauchten immer wieder die Kosten für den ÖPNV für schulpflichtige Kinder auf, die große Löcher in das Familienbudget reißen. Fehlende Angebote und Vergünstigungen für große Familien im Freizeit- und Kultursektor werden von den Elternteilen treffend identifiziert. Die Familienkarte für das Freibad oder den Zoo darf sich nicht an der „Zwei-Kind-Familie“ orientieren. An diesen Stellen wissen die Autorinnen der Studie die „vielen klugen Gedanken“ (S. 29) passend einzusetzen, um so dem Gesagten Nachdruck zu verleihen: „Also egal, was wir machen, sobald wir einen Fuß vor die Tür setzen, wird es für uns teuer“, heißt es von einer Mutter (S. 78). Ausreichend großer Wohnraum ist gerade in Mehrkindfamilien selten und gleicht in manchen Gegenden in Deutschland einem Glücksspiel.
Aktuell führen Inflation und steigende Energiepreise dazu, dass Mehrkindfamilien im besonderen Maße an ihre finanziellen Grenzen stoßen.[3] Ihr finanzieller Spielraum ist ohnehin eng. Geld ansparen zu können, um Ersparnisse für unerwartete Kosten, für nicht einplanbare Ausgaben, für plötzlich auftretende gesundheitliche Beeinträchtigungen und insbesondere für die eigene Altersvorsorge beiseite legen zu können, sind sehr relevant (vgl. S. 94). Die Eltern wissen genau, was sie leisten können und welche Hilfe sie bräuchten, der ihren Alltag erleichtert. Das Wirtschaften mit Zeit und Geld sowie der Umgang mit Ressourcen sind im Vergleich zu Familien mit einem oder zwei Kindern grundlegend anders (vgl. S. 74).
Die Studie zeigt deutlich, dass Mehrkindfamilien eben nicht „jammern“, allenfalls moderat höhere Kosten betonen (S. 74). Von der Gesellschaft ausgehend baut sich dadurch ein „normativer Druck“ auf (S. 82), zum Teil auch eine gewisse Art der Anfeindung, die Kinderreichen impliziert, alles selbst meistern zu müssen und nicht um Unterstützung zu bitten, weil sie „ja selbst schuld sind“ (vgl. S. 36f.) Hier wird die Studie sehr klar in ihrer politischen Forderung: Mehrkindfamilien sollten politisch wie gesellschaftlich stärker entlastet werden! (S. 79)
Aus den Interviewbögen leiten die Forscherinnen ihre Handlungsempfehlungen für Mehrkindfamilien ab. Für diese Themen setzt sich der Verband kinderreicher Familien Deutschland e.V. seit fast zwölf Jahren ein und schließt sich somit den in der Bertelsmann-Studie herausgearbeiteten Forderungen umfangreich an.
[1] Das entspricht 15,8 Prozent aller Familien.
[2] 81,4 Prozent der Mehrkindeltern sind verheiratet. Im Vergleich zu Zwei-Kind-Eltern ist dies überdurchschnitllich hoch (vgl. S. 16).
[3] Zum Zeitpunkt der Datenerhebung waren der Krieg und die damit verbundenen drastischen Auswirkungen (Inflation, Lebensmittelverteuerungen, generell Preisexplosionen in fast allen Bereichen) noch nicht erahnbar. Es ist daher anzunehmen, dass sich die finanzielle Situation von Mehrkindfamilien verschärft hat.